Der Zauber der Dolomiten
Dieses Jahr hat es nicht viel geschneit, und ein anhaltendes Hochdruckgebiet legt die Berge frei; jeden Tag werden die weißen Flecken an den Hängen oberhalb meines Hauses kleiner und kleiner, bis sie verschwinden, und obwohl es nachts sehr kalt ist, sind die Tage warm und sonnig.
Vor zwei Jahren erklomm ich um diese Zeit die Eisrinnen der antarktischen Halbinsel und in den Jahren davor war ich in Patagonien oder an anderen abgelegenen Orten, jetzt klettere allein ich den Weg zum Biwak Palia hinauf. Es ist nicht sehr früh, aber die Luft ist noch eiskalt, unter meinen Schritten bricht die leichte Frostdecke, die das trockene Laub zum Knacken bringt: Hier ist der Pfad sehr steil, aber er führt schnell nach oben. Von den schroffen Abhängen über dem Fußsteig hängen gewaltige Eiszapfen herab; der Weg führt in kleine, nach Osten ausgerichtete Rinnen, die jetzt für ein paar Augenblicke das spärliche Licht der scheuen Sonne genießen, das zudem von einer dichten, kahlen Baumgruppe gefiltert wird.
Hier ist für mich noch Winter, während ich dort oben in der Höhe schon den Frühling sehen kann. Ich bleibe kurz stehen und schaue im Gegenlicht hinunter auf das Tal, das in morgendliche Nebelschwaden gehüllt ist. Es ist so lange her! Im Jahr 1985 legten Andrea und ich die Aufstiegsroute Capitan Uncino an der Westwand der Cima di Val Scura, die gleich hinter uns liegt. Damals im Mai waren wir noch jung und blickten von oben ins Tal: Wir sahen die Lichter, die Häuser, atmeten den Duft von brennendem Holz, der von weit her bis zu uns nach oben kam, und wünschten uns, nicht hier in der Kälte und umgeben von Rinnsalen zu sein, die aus der Felswand sickerten. Jetzt fühle ich mich hingegen wohl hier und möchte nirgendwo anders sein.
Ich ziehe meine Jacke aus, trinke ein bisschen Wasser, schaue nach oben und gehe weiter. Im Schnee sind Spuren zu sehen, jemand war schon vor mir hier. Etwas weiter oben komme ich an eine Abzweigung, an der sich mein Weg von dem trennt, der zur Forcella Intrigos führt. Das ist der am besten erkennbare Pfad, ich nehme den anderen und erreiche das Biwak. Hier oben sieht die Welt anders aus, es gibt kaum Schnee und es wird langsam warm. Während man vorher die Geräusche des Tals hören konnte, ist die Stille hier fast schon beklemmend. Diese Berge werden nicht einmal im Sommer, geschweige denn im Winter besucht. Ich mache mich wieder auf den Weg und ziehe es vor, in der Rinne Steigeisen zu benutzen, die mir etwas mehr Sicherheit gewähren. Obwohl der Aufstieg einfach ist, könnte ein Sturz hier verhängnisvoll sein. Noch ein paar Meter und ich bin oben. Von hier aus hat man einen herrlichen Blick auf die großartigen Dolomiten im Norden, während sich die Dunstschleier wieder über Valbelluna legen. Ich setze mich hin, ziehe mich wieder an, genieße die wärmende Wintersonne auf meinem Gesicht, schließe die Augen und stelle mir vor ... dass ich überall sein könnte.